Nichtswollen, Nichtstun, einfach da sein und träumen. Ist das in Deutschland verboten?

Ich wachte heute morgen mit einem seltsamen Gefühl auf, das mich immer noch in seinem Bann hält. Ich stellte mir vor, ich wäre nichts als eine Wolke am Himmel, die sich dahin treiben lässt, ohne ein Ziel natürlich, das schien mir ganz wichtig. Ein Ziel würde bedeuten, dass ich nachdenken müsste. Ich müsste mich entscheiden zwischen Norden und Süden zwischen gut und besser. Ich müsste einteilen, bevorzugen, verwerfen. Aber als ich heute morgen als Wolke aufwachte, war ich beinahe – wie sagt man – selig, weil ich mich nicht entscheiden musste.

Ich lasse mich einfach treiben.

Eigentlich weiß ich gar nicht, ob man von einem solchen Zustand bei uns überhaupt reden darf. Ich sollte mich da vielleicht einmal im bürgerlichen Gesetzbuch umsehen, ob das nicht sogar streng verboten ist! Zumindest melden sich da einige unerfreuliche Bilder in meinem Kopfe zurück. Damals auf der Schulbank war ich nicht der einzige, der hin und wieder ins Träumen fiel, Kinder pflegen an diesem Defekt zu leiden. Da flog dann das Schlüsselbund von Lehrer Schwanke plötzlich durch die Luft auf uns zu. Wir mussten uns ducken und waren keine Wolken mehr, auch keine Saurier, Lokomotiven und Drachentöter. Schwanke stampfte mit dem Fuß, und wir wurden umgehend zu verängstigten Lernautomaten.

Es bleibt abzuwarten, ob ich mich wirklich einmal ganz in eine Wolke verwandle. Mein Schritt ist jedenfalls manchmal recht unsicher, und ich spüre, dass ich nicht ganz von dieser Welt bin. Seltsam, dass das nur mir zustößt. Rings herum sehe ich alle die vielen furchtbar Beschäftigten. Mit stoßenden Ellenbogen drängen sie zielstrebig an mir vorbei, den Blick auf den Boden geheftet. Sie rennen und rennen, immer Acht gebend, dass sie ja nicht die Stangen des Tretrads verfehlen. Es wird mir ganz schwindelig, wenn ich das sehe. Deswegen blicke ich ja auf den Himmel wie Hans-Guck-in-die-Luft, jawohl, und deswegen kommt es vor, dass mir plötzlich ein Laternenpfahl unsanft Halt gebietet. Doch der nimmt mir das nicht weiter übel, vielleicht meint er sogar, ich wollte mit ihm ein Gespräch beginnen. Nur die Leute machen sich über mich lustig. Der ist nicht ganz von dieser Welt, sagen sie. Und vielleicht haben sie Recht.

Doch dann steige ich auf den Fernsehturm und ganz oben von der Terrasse sehe ich auf die brodelnde, kochende, vor lauter Anstrengung und Willen glühende Stadt hinab. Und da kommt mir so ein Gedanke, den kein vernünftiger Mensch haben sollte. Ich frage mich, wozu ist denn all ihr Rennen gut? Hier in Europa sind sie fünfzig Jahre gerannt, und sie glaubten danach würden sie ausruhen können. Und jetzt? Jetzt hören sie Peitschen knallen. Von überall her. Jetzt geht es erst richtig los. Lauft doppelt so schnell wie vorher, lauft mit hechelnder Zunge, lauft euch zu Tode! Das ist es, was man ihnen sagt. Lauft, denn hinter euch kommt ein Ungeheuer.

Solche Gedanken denke ich selten zu Ende. Vorher schweift mein Blick zum Himmel und zu den Wolken ab, und ich hänge mich gerne da oben an. Ich ziehe einfach mit, während ihr rennt. Natürlich ziehe ich ohne ein Ziel, sonst würde ich ja genauso rennen.

Es gibt Leute, die sagen, dass ich sonderbar sei. Aber da irren sie sich. Sie merken nicht einmal, dass sie es sind, die sich abgesondert haben, von den Dingen nämlich und dem Grund des Nichtstuns und des Nichtswollens. Davon haben sie sich abgesondert. Denn sie sind Schauspieler, schlechte Schauspieler, die ihre Rolle miserabel ausführen. Informatiker sind sie, Bäcker, Klempner, Physiker usw., aber Menschen? Ich merke es immer wieder, wie verloren sie sind, wenn man sie an ihren Ursprung erinnert. Hinter der Maske verstecken sie sich, die Maske schützt sie. Sie laufen mit einem Etikett durch die Welt und hinter diesem Etikett ist – die Leere. Wenn ich sie an ihre Verwandtschaft mit den Wolken erinnere oder mit einer Tulpe oder – warum nicht – mit einem Briefbeschwerer, dann blicken sie mich so an, als käme ich von einem anderen Stern.

Vor einigen Tagen hatten wir wieder großen Besuch, Akademiker natürlich, also höchst aufgeblasene Leute, von denen einer sich mir als Kernphysiker vorstellte. Schön, ich weiß schon, dass er dafür Bewunderung verlangt. Aber Kernsphysiker, das war ihm noch nicht genug. Er war nämlich Kernphysiker für irgendwelche Teilchen von Teilchen, ich kann mich an die Details nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass er dieser Präzisierung besonderen Wert beimaß. Er verlangte ein doppeltes Maß an Bewunderung.

Und was sind Sie, wollte er anschließend hören?

Es trug sich so zu, dass mein Blick in diesem Augenblick auf den Briefbeschwerer meines Vaters fiel, den ich schon immer liebte, denn er besteht aus schimmernder Jade. Man hat ihm diesen Stein in China auf einer seiner häufigen Vortragsreisen geschenkt. Vom Strahl der Abendsonne getroffen, die hell und stark durch das Fenster fiel, leuchtete der Stein in diesem Moment in einem besonderen Licht. So geschah, was ich öfter erlebe, mit den sogenannten toten ebenso wie mit lebenden Dingen. Ich wurde hineingesogen, ich selbst hüllte mich in diesen Schimmer. Mein Ich wurde vom Leuchten und Wesen dieses Steins ausgelöscht.

Ein Briefbeschwerer, antwortete ich dem Professor – und das stimmte auch, obwohl der Mann sich mit einem bösen Lachen zur Seite drehte und den ganzen Abend kein Wort mehr mit mir sprach. Ich habe nichts erklärt, weil es da nichts zu erklären gibt. Wer es nicht selbst erfahren hat, wird nie begreifen, dass wir im Grunde in jedem Moment alles sein könnten, was es auf dieser Welt nur gibt: Stein und Blume, der Sturm und die Stille. Das Schwere, die Tiefe und die lichte Höhe der Wolken. Man muss nur den Weg über das Nichtstun gehen.

Ich weiß, dass man mich für einen Phantasten hält. Ja, wo käme denn da die Gesellschaft hin, wovon sollen wir leben, wenn nicht jeder brav seine Rolle spielte? Sie blicken mich böse an und nennen mich sogar einen Schmarotzer, einen Taugenichts, einen Verrückten. Am liebsten würden sich mich hinter Gittern verschwinden lassen. Ihr Narren, eine Wolke kann man nicht fangen. Ihr werdet mich niemals fassen. Von oben schaue ich auf euch herab. Ihr seid es, die hinter Gittern leben und es nicht einmal merken. Wenn ihr erst Mensch und dann Professor wäret. Aber ihr habt die Reihenfolge vertauscht, ihr seid erst Professor, Nuklearprofessor für die Teilchen X oder Y, und dann seid ihr vielleicht – aber das ist keinesfalls sicher – hin und wieder auch noch Menschen. Wie ein Panzer hat sich die Rolle um euch gelegt, und aus diesem Stahlgehäuse findet ihr nicht mehr heraus. Ihr seid Gefangene, während ich, der Nichtsnutz, ein Wolke bin, die über euren Köpfen dahinschwebt. Von oben sehe ich euch rennen, den Blick angestrengt auf den Boden gerichtet. Was tue ich jetzt, überlegt ihr, und wenn Jetzt vorüber ist, was tue ich dann, und wenn Dann vorbei ist, was muss ich anschließend unternehmen?

Nichts tun, Nichts wollen – nichts als ein Stein, eine Wolke sein und sich treiben lassen. Ich weiß nichts Köstlicheres, weil in solchen Augenblicken die ganze Welt zu mir kommt. Die Welt tut nichts, sie bewegt sich, aber sie ruht. Sie strömt einfach in mich hinein, füllt mich aus, bis ich überfließe. Das sind Momente des Glücks, die nur der nichts Tuende und nichts Wollende kennt.

Manchmal kommen nicht nur die Dinge zu mir, um mir ihr Wesen zu verraten – die toten Dinge wie die Unwissenden sagen (Dinge, die doch so lebendig sind wie ich selbst). Manchmal kommen Menschen, und wir nehmen zu unserem Erstaunen war, dass der eine der Spiegel des anderen ist. Wir vergessen die dürftige Rolle, die wir eben noch spielten. Aus dem Nebenzimmer dringen Töne von Bach, mein Vater ist ein Meister auf dem Klavier. Es ist das Zeichen der plötzlichen Verwandlung, beinahe alle verwandeln sich mit Ausnahme vielleicht des Nuklearprofessors. Dann sind wir gleich, so wie das Spiegelbild identisch mit seiner Vorlage ist. Dann sind wir die Menschen, die es vor tausend Jahren gab und die es vielleicht noch ein Jahrtausend nach unserer Zeit geben wird. Wir sind der Ursprung, aus der sich alle Dinge entfalten und das Ende, wohin sie schließlich zurückkehren. Wolken lösen sich irgendwann auf, als wären sie nie gewesen und stehen doch einige Tage später wieder am Himmel, als wären sie nie verschwunden.

Manche schämen sich nachträglich vor solchen Momenten. Sie haben ihre Rolle vergessen. Das macht sie abscheulich ernst und furchtbar seriös, und sie reden so, als wären sie schon mit Krawatte und Anzug aus dem Leib ihrer Mutter gekrochen. Sie fürchten sich vor der Wahrheit.

Die Wahrheit, ich wage es nur zu flüstern, das ist das Nichtstun, das Nichtswollen, das Dahintreiben nach Art der nichtsnutzigen Wolken. Wenn das nur nicht in Deutschland verboten wird!

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